Mitte März 2021 wurde ein Video öffentlich, auf dem zu sehen ist, wie ein Sanitäter einen auf einer Liege gefesselten Mann mit aller Kraft gegen den Kopf schlägt. Zwei anwesende Polizisten stehen regungslos daneben. Anstatt den Sanitäter zu stoppen oder ihn nach dem Übergriff von dem Gefesselten fernzuhalten, machen sie weiter, als wäre nichts geschehen.
Der Vorfall ereignete sich in der Nacht zum 8. November 2020 in einer Geflüchtetenunterkunft. Der Betroffene, Amar, ist Kurde und wegen des Krieges in Syrien 2017 nach Deutschland geflohen. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie er auf die mediale Berichterstattung über den Vorfall sowie die bisher ausbleibende juristische Aufarbeitung blickt und welche Folgen der Übergriff für ihn hat.
Das Interview führten Jörg Bernhardt und Franka Füller
Pressestelle: Amar, wie geht es dir gerade?
Amar: So Gott will, geht es mir gerade gut. Nur an der Wange habe ich noch Schmerzen. Da, wo der Knochen gebrochen ist.
Das heißt, es dauert noch bis der Bruch verheilen wird?
Das weiß ich nicht genau, weil dort drei Knochen gebrochen sind. Die Operation wäre eine schwere Operation. Die Ärzte meinten, dass sie dafür meinen Kopf längs aufschneiden müssten, um überhaupt an die Wangenknochen kommen zu können. Es müsste dafür diese OP gemacht werden, aber das kann ich mir nicht vorstellen. Einen so schweren Eingriff möchte ich nicht.
Neben der gesundheitlichen Auswirkungen, welche weiteren Folgen hat der Übergriff für dich?
Ich habe seitdem Probleme mit meiner Sehkraft auf dem linken Auge. Ich kann mit ihm in der Ferne nicht mehr gut sehen. Auch psychisch hat mich das geschädigt. Ich kann keinen Polizeiwagen mehr sehen oder Sirenen hören, ohne Panik zu bekommen.
Nachdem das Video veröffentlicht wurde, gab es ja für kurze Zeit eine breitere Berichterstattung. Wie war deine Perspektive darauf?
Es gab sehr viel Berichterstattung über meinen Fall, ja, aber ich konnte das alles nicht selber Lesen. Ich kann selbst nur arabisch lesen, das war dann das Problem. Aber ich habe viele Anrufe bekommen. Das waren meistens meine Freunde. Eigentlich von Menschen, die mich gut kannten. Sie haben sich gemeldet und gesagt, sie hätten die Berichte gelesen. Mich haben sie dann gefragt: „Stimmt das, du bist Schuld?“ Bei ihnen klang das so, als sei ich der Schuldige gewesen und der Sanitäter unschuldig. Ich konnte das gar nicht nachvollziehen und habe mich gefragt, wie dieser Eindruck entstanden sein kann.
Unter anderem der Anwalt des Sanitäters hat ja in Zweifel gezogen, ob der Schlag überhaupt dich und nicht nur die Lehne der Trage getroffen hat. Wir waren da selber fassungslos als wir gehört haben, wie das dann auch in der Berichterstattung teilweise unkritisch aufgenommen wurde. Hattest du das auch gehört und was hast du dazu gedacht?
Ja, das habe ich dann auch mitbekommen. Ich war davon total schockiert, weil es ja hieß, dass nur die Matratze getroffen wurde. Aber in dem Video sieht man doch alles und die Verletzung ist von den Ärzten ja festgestellt worden.
Du hast vorhin erzählt, dass dir das Video am Tag nach dem Übergriff vom Hausmeister der Unterkunft gegeben wurde und du dich selber gar nicht mehr genau erinnern konntest, was in der Nacht passiert ist. Wie war es für dich, dann dieses Video zum ersten Mal zu sehen sehen?
Ich war bestürzt als ich das gesehen habe, weil ich mich ja selbst an alles nicht erinnern konnte. Auch darüber wie ich mich vorher verhalten und dann denn Feuerlöscher entleert habe, war ich schockiert. Ich habe an dem Tag einen Anruf aus der Türkei bekommen, es war eigentlich ein ganz normaler Tag. Da habe ich dann die Nachricht bekommen, das meine Cousine verstorben ist. Mit ihr bin ich aufgewachsen. Ich war verzweifelt und wütend, ich habe dann eine Flasche Whiskey getrunken. Ab dem Zeitpunkt weiß ich gar nicht mehr, was passiert ist. Mir ist es wichtig, mich auch für meinen Zustand an dem Tag zu entschuldigen. So bin ich normalerweise nicht, so etwas tue ich nicht. Das ist kein Alltag für mich, ein solches Verhalten.
Als ich dann in dem Video den Schlag gesehen habe, hat mich das sehr wütend gemacht. Aber noch wütender hat mich gemacht, wie die Polizisten einfach daneben gestanden und zugeschaut haben. Sie haben gar keine Reaktion gezeigt und sind auch nicht dazwischen gegangen. Sie haben den Täter überhaupt nicht zur Rechenschaft gezogen.
Weist du, was nach dem Videoausschnitt weiter passiert ist?
Als ich mit dem Krankenwagen weggebracht werden sollte, hat der Sanitäter mir im Wagen den Hals zugedrückt. So, dass ich eine Zeit keine Luft mehr bekommen habe. Ein Zeuge, der vor dem Krankenwagen stand, hat mir das erzählt. Das war auch ein Mensch der in dem Heim lebt, ein Kurde. Er stand vor dem Wagen und konnte mich so sehen.
Du bist dann mit dem Video direkt zur Polizei gegangen, richtig?
Ja, ich bin direkt zur Polizei gegangen, um Anzeige zu erstatten. Dort hat mich die Polizei aber aufgefordert, das Video sofort zu löschen. Sie wollten dann mein Handy sehen, um mitzubekommen, wie ich das Video vor ihnen lösche. Ich habe das Video aus Angst dann auch gelöscht, während sie zugeschaut haben. Aber zum Glück hatte ich die Aufnahme vorher schon Freunden geschickt. Ich hatte also eine Kopie davon. Sie haben auch nicht begründet, warum ich das löschen soll. Aber ich denke, sie wollten nicht, dass das öffentlich wird.
Wir haben uns gefragt, wie es an dem Morgen war, als du in der Zelle aufgewacht bist und dann deine Schmerzen gemerkt hast. Haben die Polizisten dir an dem Morgen etwas dazu gesagt, als sie dich entlassen haben?
Ich bin wach geworden und habe mich dann zuerst gewundert, warum ich in Gewahrsam bin, weil ich ja nichts mehr wusste. Ich habe die Schmerzen direkt gespürt, aber mich hat in dem Moment dann vor allem interessiert, warum ich in der Zelle sitze. Die Polizisten meinte dann zu mir, ich solle mir keine Sorgen machen und werde in einer halben Stunde wieder entlassen. Zu der Nacht haben sie nichts gesagt. Als ich dann zu Hause vor dem Spiegel stand, habe ich die Verletzung genauer gesehen.
Die Polizei hatte in ihrer ersten Pressemitteilung nichts zu dem Angriff auf dich durch den Sanitäter geschrieben. Das scheint nicht gerade von einem eigenen Aufklärungsinteresse zu zeugen. Wie kam es zu der Entscheidung von dir und deinem Anwalt, das Video zu veröffentlichen?
Wir hatten das Video schon vorher, aber haben zuerst abgewartet, ob die Polizei von sich aus handelt. Als dann aber nach einiger Zeit kein Strafverfahren eröffnet wurde und die Ermittlungen sogar eingestellt werden sollten, gab es keinen Ausweg mehr, außer die Aufnahmen zu veröffentlichen.
Was erhoffst du dir von der juristischen Aufklärung, sollte sie doch noch passieren?
Meine Hoffnung ist, dass es Gerechtigkeit für mich gibt, indem der Sanitäter für seinen Angriff und die Polizisten für ihr Verhalten verurteilt werden. Ich habe gar nicht gewollt, dass der Sanitäter deswegen bei seiner Arbeit gekündigt wurde und nun kein Geld mehr verdienen kann. Ich will das nicht wegen ihm, sondern vor allem weil er auch eine Familie und Kinder hat. Die konnten ja nichts für sein Verhalten.
Gibt es etwas, was du dir für den Prozess wünscht? Etwas, wie man dich unterstützen kann?
Wenn Menschen kommen, würde ich mich darüber immer freuen. Am wichtigsten ist für mich, dass wieder Gerechtigkeit hergestellt wird. Aber es ist ja immer noch unklar, ob und wann es den Prozess geben wird. Etwas offizielles gibt es noch nicht. Bis heute habe nur ich ein Strafgeld von 370 Euro bekommen, wegen diesem Abend.
Vielen Dank, Amar! Wir wünschen dir alles Gute und hoffen für dich, dass sich dein Wunsch nach Gerechtigkeit erfüllt!
Während unseres Gespräches zeigt Amar uns noch ein anderes, von ihm selbst aufgenommenes Video. In diesem sieht man ihn, wie er sich auf der Unterseite eines fahrenden Güterzuges festhält. 21 Stunden dauerte die Fahrt von Griechenland nach Ungarn. Er wird dort festgenommen und alle seine Sachen werden beschlagnahmt. Später schafft er es, alleine weiter nach Deutschland zu fliehen. Dazu sagte er „Der Krieg, der Weg hierhin war für mich traumatisch, das hatte alles einen Einfluss.“