20 Jahre später: Von Kassel zum G8 Gipfel in Genua


Heute vor genau 20 Jahren, am 20. Juli 2001, starb der damals 23-jährige Carlo Giuliani durch die Schüsse der italienischen Carabinieri bei einer Straßenschlacht während des G8 Gipfel in Genua. Wir sprachen mit Aktivist*innen aus Kassel über ihre Erinnerungen an die Gipfelproteste in der italienischen Hafenstadt und welche politische Bedeutung der Todesfall auch heute noch hat.

Gemälde am Carlo Giuliani Park in Berlin. Quelle: https://www.flickr.com/photos/pinciolola/

Eigentlich hätte sie gar nicht vor gehabt, nach Genua zu fahren, erzählt Karla, die 2001 in Kassel politisch aktiv war. Ihr politisches Umfeld sei auch nicht direkt Teil der Antiglobalisierungsbewegung gewesen.

„Wir standen dem auch kritisch gegenüber, schließlich haben wir uns gesagt: Wir sind ja nicht grundsätzlich gegen Globalisierung. Für uns stellte sich eher die Frage, wie sich die Globalisierung vollzieht. Schon damals haben wir die europäische Abschottungspolitik kritisiert, während Waren frei um den ganzen Globus geschickt werden können. Das haben wir natürlich abgelehnt.“

– Karla, Aktivistin aus Kassel

Kurz vor dem Gipfel meldete sich dann der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) persönlich zu Wort und forderte ein härteres Vorgehen gegen militante Aktivist*innen. Deutsche “reisende Gewalttäter” würden schon an der Ausreise gehindert werden, habe er der italienischen Regierung versprochen. So sei dann bekannt geworden, dass es Listen gibt, auf denen Leute als vermeintliche “Chaoten” geführt werden. Das war ein Novum, erinnert sich Karla. Als sie das erfuhren, sei die Entscheidung gefallen, doch spontan nach Genua zu fahren.

„Das lag vor allem an Schröder, den haben wir wirklich gehasst! Wenn der gesagt hat ‘tut dieses oder jenes nicht’, dann haben wir das erst recht gemacht.“

Nur wenige Tage später machte sich ein vollbesetzter Reisebus aus Kassel auf den Weg nach Italien. Der wurde zwar bereits an der Grenze zur Schweiz stundenlang aufgehalten und durchsucht, ausreisen durften am Ende aber trotzdem alle. In Genua kam der Bus allerdings erst an, als die tödlichen Schüsse schon gefallen waren.

„Uns hat noch auf der Fahrt die Nachricht erreicht, dass die Bullen jemanden erschossen haben, dass Carlo ermordet wurde. Wir waren alle völlig geschockt und niemand wusste ganz genau wie eigentlich die Lage vor Ort war. So kamen wir dann in Genua an.“

Die Reisegruppe aus Kassel blieb ein paar Tage dort, die Lage war unübersichtlich. Ohne Handys sei es ohnehin schwer gewesen, den Überblick zu behalten und in Kontakt zu bleiben, erinnert sich Karla.

Straßenschlachten beim G8 Gipfel in Genua 2001. Quelle: https://www.flickr.com/photos/copyriot/

Einige andere Kasseler Aktivist*innen, die schon länger in Genua waren, hatten ihren Schlafplatz in der Diaz-Schule. Die wurde von der italienische Polizei in der Nacht vom 21. auf den 22. Juli gestürmt. Wer dort übernachtete, wurde teils noch im Schlafsack liegend zusammengeschlagen und anschließend in Gewahrsam genommen.

„In dieser Nacht sind wir von der Polizei brutal verprügelt, zum Teil fast totgeschlagen worden. Sie kennen die Bilder von uns, wie wir (z.T. schwer) verletzt aus diesem Gebäude herausgetragen wurden. Sie wissen, dass wir anschließend in der Kaserne Bolzaneto weiter misshandelt, bedroht und erniedrigt wurden, dass wir nicht schlafen und nicht essen durften und nicht medizinisch versorgt wurden. Wir werden das nie vergessen. Doch genauso wenig werden wir vergessen, warum wir damals hierher nach Genua gekommen sind.“

– Manifest der Betroffenen aus der Diaz-Schule (Link)

Nach den tödlichen Schüssen auf Carlo Giuliani war der Überfall auf die Diaz-Schule und die anschließende Folter im Polizeigewahrsam der zweite große Schock. Viele, die das miterlebt haben, seien danach traumatisiert gewesen, erzählt Karla. Die restlichen Tage hätten sie sich hauptsächlich um ihre Freund*innen kümmern müssen.

Giuliano Giuliani zu Gast in Kassel

Einige der Kasseler Aktivist*innen, die an den Ereignissen des G8 Gipfel in Genua beteiligt waren, trafen sich Jahre später wieder im Autonomen Zentrum. Im Oktober 2015 hatten lokale Polit-Gruppen Giuliano Giuliani, Carlos Vater, nach Kassel eingeladen, um von seinem Sohn und den Umständen seines Todes zu erzählen.

Giulianos Erzählung sei erschütternd und berührend gewesen, erinnert sich Sebastian, der die Veranstaltung damals mit-organisierte. Minutiös habe er den Ablauf geschildert: Wie der Carabiniero seinem Sohn aus nächster Nähe in den Kopf geschossen und wie sie ihn anschließend zweimal mit dem Auto überfahren haben, wie sie sofort versuchten die Tat zu vertuschen und einem anderen Demonstranten anzuhängen.

„Diese Lügengeschichte war so hanebüchener Unsinn. Zuerst hieß es, ein anderer Demonstrant habe einen Stein geworfen und damit Carlo am Kopf getroffen. Dann hieß es, der Bulle haben einen Warnschuss abgegeben, der sei von einem fliegenden Stein in der Luft abgeprallt und habe Carlo als Querschläger getroffen.“

– Sebastian, Aktivist aus Kassel

Anhand von Fotos, die Aktivist*innen auf der im Fahrwasser der Antiglobalisierungsbewegung entstandenen internationalen Medienplattform indymedia zusammentrugen und veröffentlichten, lässt sich der Hergang der Ereignisse jedoch rekonstruieren. Zumindest insoweit, dass erhebliche Zweifel an der offiziellen Darstellung des italienischen Staates aufkamen, der 23-jährige sei durch einen Querschläger getroffen worden. Verurteilt wurde der verantwortliche Carabiniero trotzdem nicht.

„Wir haben Carlo nicht gekannt, viele von uns waren 2001 auch noch zu jung um seinen Tod als politisches Ereignis einordnen zu können, geschweige denn selbst in Genua dabei gewesen zu sein. Trotzdem konnten wir uns auch Jahre später mit ihm identifizieren. Er war einfach ein Junge, der auf der richtigen Seite stand und entschlossen war, dafür auch zu kämpfen. Deswegen haben die Bullen ihn abgeknallt. Das könnte jedem von uns passieren.“