Corona-Ausbruch in Erstaufnahmelager


Am Donnerstag ist Kassel offiziell zum Corona-Risikogebiet erklärt worden. Auslöser war die am Vortag bekannt gewordene Infektion von mindestens 112 Bewohner*innen der Geflüchteteneinrichtung in Niederzwehren mit dem Virus. Wir sprachen mit einem Bewohner telefonisch über die Bedingungen vor Ort.

Seit mittlerweile über einer Woche befinden sich die 301 Bewohner*innen von der Außenwelt abgeschottet in den Räumen des Kasseler Erstaufnahmelagers. Dieses war vergangenen Freitag unter kollektive Quarantäne gestellt wurden nachdem Covid-19-Tests von fünf Bewohner*innen und einer Mitarbeiterin positiv ausfielen. Die Menschen vor Ort haben Angst und befinden sich auf engem Raum in fünf- oder sechs-Personen-Zimmern in Isolation.

Mehrere Bewohner der Unterkunft berichteten, dass sie weder zu Beginn des Ausbruches noch gegenwärtig ausreichend über das Ausmaß des Infektionsgeschehens und die verhängten Maßnahmen informiert worden seien. Die Hygiene- und Abstandsregeln konnten und können auch weiterhin von den Bewohner*innen aufgrund der Umstände im Erstaufnahmelager großteils nicht umgesetzt werden. So müssten sich positiv getestete Menschen mit bisher negativ getetesteten Menschen die gemeinschaftlichen Sanitäreinrichtungen und Toiletten teilen. Obwohl infizierte Menschen mittlerweile in den Räumen des 1. und 2. Stock separiert worden seien, werde so ein ausreichender Schutz vor dem Virus verunmöglicht.

Die Sorgen über die kommenden Tage und die Wut auf die herrschenden Zustände sind daher groß. Mit einem Menschen in der Unterkunft führte die Pressestelle ein Gespräch über die gegenwärtige Situation, welches wir in Auszügen wiedergeben.

Pressestelle: “How are you? How is the mood in the camp?”

“The people are scared, it‘s crazy. Yesterday they separated the people who have corona from the one who don‘t have corona. Before that it was mixed, I didn‘t know if they can control it. They took them to the first and second floor. Today in the morning they lockdown everything.”

“How are the people dealing with the situation? It seams to be pretty hard to get separated and be unable to go outside.”

“Exactly. It‘s pretty hard. Before the lockdown, I heard of some people who have corona downstairs. From this time we couldn‘t go outside the building anymore. I was outside the camp by that time. Friday at six o’clock a friend called me and said: „They make the lockdown. If you come inside, you can’t go outside. Everybody has to make quarantine.“”

“Do you have the possibility to go out now or are you together with people who have corona?”

“Since friday we used the same toilets, the same rooms. A lot of people had contact with people who have corona. Now it‘s impossible to go out and get some air or to buy food and cigarettes. The food in the camp is very bad.”

“Do you think the local authorities dealt well with the information about the corona cases?

“Before they made the lockdown, I heard that some people here have corona and are in quarantine. The information was too late and some people didn‘t hear about it.”

“What is important for you now, what can be done to support you?

“I don‘t know. I am scared with the deportations. I don‘t think they will deport us in this situation but I don‘t know. They don‘t even tell us the deadline when the quarantine ends.”

Konsequenz des Lager-Systems

Die gegenwärtigen Bedingungen erweisen sich dabei als Resultat der zentralen Zwangsunterbringung. Neben anderen forderte der Hessische Flüchtlingsrat bereits im März diesen Jahres die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten, um die Menschen ausreichend vor dem Corona- Virus schützen zu können. Auch der für das Lager zuständige Arzt Helmuth Greger wies im Interview mit der Hessenschau am 15.10.2020 daraufhin, dass die gegenwärtige Entwicklung voraussehbar gewesen sei. Man hätte vor Monaten bereits von dem zuständigen Regierungspräsidium Gießen einen „Krisenplan“ gefordert, um die jetzige Situation zu verhindern.

Ein Sprecher des Präsidiums hingegen wies die Aufforderung der Mediziner*innen „aus fachlicher Sicht“ ab, „weil das neue Infektionsketten an anderen Standorten hätte auslösen können“. Dass für Geflüchtete eine separate Einzelisolation selbst in medizinischer Notlage nicht einmal in Betracht gezogen wird, spricht Bände.

Die Auswirkungen haben die Bewohner*innen zu tragen. Für sie herrscht nicht erst seit letzter Woche der Ausnahmezustand, sondern die Normalität stellt bereits die Katastrophe da: miserable Lebensbedingungen und ständige Abschiebungsdrohung sind für die meisten allgegenwärtig und alltäglich.

Am Samstag den 17.10.2020 wird ab 15:00 Uhr zu einer Kundgebung vor der Erstaufnahmeeinrichtung in der Frankfurter Straße 365a aufgerufen. Die Veranstalter*innen wollen vor Ort ihre Solidarität mit den Bewohner*innen der Unterkunft zeigen und fordern die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten.