Festival der Infektionen


Am Samstag den 20.03.2021 traf sich die bundesweite Querdenker Bewegung in Kassel zu einem Protest- und Infektionshappening für oder gegen nicht ganz klar umrissene Ziele. Trotz gewalttätigen Übergriffen auf Außenstehende, verbotenem Aufzug und kleineren Ausschreitungen entschied sich die Einsatzführung der Polizei für eine unterstützende Begleitung der Veranstaltung und Schläge gegen Linke.

Die politische Entscheidung, dieses Megaevent des kollektiven Wahns zuzulassen, wurde seitens der Polizei durch eine Überforderung der Einsatzkräfte entschuldigt. Die Tatsache, dass sich die hessische Polizei in der Vergangenheit dadurch hervorgetan hat, auf Versammlungslagen im linken Kontext mit absurdem Personal- und Materialaufwand zu reagieren, lässt an dieser Erklärung zweifeln. Die Begründung der Polizei für ihre Untätigkeit angesichts der Vorfälle lautet weiter: Es sei nicht geknüppelt worden, denn “die Teilnehmer kamen augenscheinlich überwiegend aus dem bürgerlichen Lager und zeigten insgesamt eher keine erkennbare Tendenz zu gewalttätigen Aktionen.” Das hieße im Umkehrschluss: Würde es jemand wagen, außerhalb der bürgerlichen Ordnung zu denken, käme der Knüppel aus dem Sack.

Obwohl der Wahn der Querdenken-Bewegung in Punkto Pandemiebekämpfung dem politischen Willen von Bundesregierung, Gesundheitsamt und liberaler Zivilgesellschaft entgegensteht, entscheidet sich das Innenministerium zusammen mit der Polizeiführung für einen lassez-faire Kurs in Kassel. Denn so isoliert, wie es das aktuelle Narrativ vorgibt, sind die Querdenker*innen nicht. Denn der von allen Akteuren vielbeschworene “Zusammenhalt der Gesellschaft” meint vorrangig das sozio-ökonomische Milieu, die sich am Samstag auf der Straße wiederfand: Mittelalte, weiße Ehepaare aus der sogenannten Mittelschicht mit Eigenheim, Mittelklasse-Kombi, Ehepartner*in, halbhohen Wanderschuhen, Walkingstöcke und einem gehörigen Konservatismus im Rücken. “Wildgewordene Kleinbürger” nennt das Kasseler Bündnis NDRS die Melange.

Nicht vernachlässigt werden darf jedoch, dass am Samstag auch alle rechten Strukturen von Rang und Namen anwesend waren: Die gesamte frisch gewählte Kasseler AfD-Fraktion fand sich im Geschehen wieder, mussten jedoch das AfD-Logo auf ihrem mitgebrachten Schild überkleben. Man gab sich dort die Klinke mit NPD-Kadern, Identitären und Hooligans in die Hand. Sogar bundesweit berüchtigte Neonazis wie Leon R. aus Eisenach wurden laut Social Media- Berichten unter den Querdenker*innen gesehen.

Gewalt am Samstag

Während der Polizei keine nennenswerten Gewalttätigkeiten auffielen, gibt es etliche Berichte von Kassler*innen, die an diesem Tag aus den Querdenken-Demonstrationen heraus angegriffen wurden. Während bei vergangenen Querdenker-Veranstaltungen vor allem Neonazistrukturen den Straßenkampf mit Linken und Polizei suchten, musste in Kassel festgestellt werden, dass die Gewalt nun auch vom Durchschnitts-Querdenker ausgeht.

Eine Gruppe von Antifaschist*innen stellte sich zu Beginn des Protestgeschehens mit einem Transparent neben einem der Aufmärsche auf. Sie wurden unvermittelt von der Demospitze der Querdenker*innen mit Schlägen und Tritten angegriffen. Im Handgemenge wurde ebenfalls ein freier Fotojournalist mit Faustschlag niedergestreckt. Am Ende des Tages zählte die Journalistenunion 14 Angriffe auf Journalist*innen durch Polizei und Querdenker. Beispielhaft ist auch der Angriff auf den stellvertretenden Ortsvorsteher der Kasseler Linken, Ali Timtik. Während er mit Anderen die von Querdenkern platzierten rassistischen Plakate und Schmierereien vom sogenannten Obelisken in der Treppenstraße entfernte, griffen zwei Querdenker die Gruppe mit Pfefferspray an.

Die Lokalzeitung HNA berichtet überdies von Übergriffen von Querdenkern auf unbeteiligte Erwachsene und Kinder mit Mund-Nasen-Schutz, sowie Privatwohnungen und Geschäftsleute, die sich am Rande kritisch gegenüber dem Geschehen äußerten.

Die Fahrradblockaden, die von der Gegenkundgebung ausgingen, wurden durch aggressive Querdenker*innen grundsätzlich angegriffen und Fahrräder beschädigt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch der dritte Akteur des Tages, die Polizei, zumindest gegenüber Gegendemonstrant*innen ein entspanntes Verhältnis zur körperlichen Gewalt an den Tag legte. Breit gestreute Videos zeigen eine enthemmte Gewalt gegen Blockaden unterm Stern der Lagertrennung. Laut der Gruppe KligK wurden Gegner*innen des Querdenken Autokorsos schon am Freitag Abend von der Polizei angegriffen.

Doch wurde sich gegen die Querdenker*innen trotz der gescheiterten Blockade- Versuchen auch verteidigt. So berichten Querdenker-Chatgruppen von mehreren körperlichen Angriffen durch Vermummte auf sich, sowie von zerstochenen Reifen und gelösten Muttern an ihren Fahrzeugen.

Ratlos in die Zukunft?

Kassel war der Austragungsort für ein bundesweites Phänomen. Nach Berichten der lokalen Antifagruppe sind die lokalen Querdenken- Strukturen zwar vorhanden, haben aber in der Vergangenheit nie mit besonderer Stärke geglänzt. Die Belagerung der Stadt durch auswärtiges, erlebnisfreudiges Reisepublikum war ein Prototyp gegenwärtiger Querdenken- Mobilisierung: Weder gibt es eine gemeinsame Ideologie, noch ein Tagesziel. Es erinnert an ein bizarres Festival; allein die mäandernde Anwesenheit in einer Masken-verweigernden Masse reicht als politisches Programm.

Die Gegner*innen dieses Geschehens müssen sich nicht nur in Kassel einige Fragen stellen. Allein die schiere Masse an bundesweit mobilisierten Querdenker*innen stellt sie vor einige Herausforderungen, welche klassische, bisher eingeübte Konzepte des zivilen Ungehorsams hilflos erscheinen lassen. Auch der praktische Schulterschluss zwischen den polizeilichen Einsatzkonzepten der Repression und den wirren wie gewalttätigen Querdenkenaktionen lässt Gegner*innen ratlos zurück. Trotz aller öffentlichten Beteuerungen wie verachtenswert die Querdenkerbewegung denn nun sei, wiederholt sich ein Schauspiel wie in Kassel unter polizeilicher Aufsicht nun schon zum vierten Mal.

Zumindest eines scheint jedoch nach diesem Festival der Infektionen sicher: die Kasseler Inzidenzzahl wird in der kommenden Woche neue Höhen erklimmen.