Dieser Stadtteil soll für alle sein!


Ein Bericht aus dem Kasseler Stadtteil Wesertor

von Christoph Hepp

Der Wesertorplatz in Kassel ist am letzten warmen Samstag im September gut gefüllt. Die Gemeinwesensarbeit des Stadtquartiers hat alle Register gezogen: Von der Jugendsporthalle über die lokale Kleinstbrauerei bis hin zum Moscheeverein sind alle da. Es wird gegessen, gespielt, getrunken und nicht zuletzt diskutiert und gelacht. Ein findiger Mitarbeiter der Stadt hat eine Mülltüte über das Hinweisschild auf die Alkoholverbotszone gestriffen.

Einige Wochen zuvor: Das Ordnungsamt der Stadt Kassel streift zusammen mit der Polizei um den Platz, parkt demonstrativ auf der Gemeinfläche. Im Dunkeln stehen breitbeinig die Ordnungsämtler und -hüter. Die Arme sind vor der Einsatzweste verschränkt, bemüht Stärke ausstrahlend, und dreinschauend, als wäre ihnen nur ein leerer Platz genehm. Die normalerweise dort ansässigen Trinker werden zum vermeintlichen Sicherheitsproblem.

Im Durcheinander des Stadtfests auf dem Wesertorplatz ist von Sicherheitsproblemen nichts zu merken. Man lernt sich kennen. „Denn dieser Stadtteil ist für alle da“, so schallt es von der Bühne. Gemeint ist die Durchmischung verschiedenster Milieus im kleinen Stadtteil. Von Prekären, Student*innen bis Arbeiter*innen sind jede Einkommensgruppe, Religion und Menschen jeder Hautfarbe willkommen. Die Kinderschar, die den 800 Meterlauf durch die Sodensternstraße kaum erwarten kann, unterstreicht die Aussage lautstark und rennend. Es geht auch darum, dass sich die Bewohner mit dem Stadtteilfest den öffentlichen Raum wieder aneignen.

Einige Meter weiter wurde der Sodensternpark gesperrt, wegen der Einsturzgefahr eines anliegenden Gebäudes. Das Ordnungsamt vertreibt mit Genugtuung die verbliebenen Jugendlichen aus dem Park, auch hier kann man sich vorstellen, dass ihnen die Sperrung nicht schlecht in die Karten spielt. Denn hier soll ja bekanntlich gedealt werden, zumindest scheint es durch die regelmäßigen Razzias der Polizeistreifen bei den migrantischen Jugendlichen so.

Die anliegenden Studenten-Wohngemeinschaften scheint das aber bei allen Kriminalisierungsversuchen eigentlich nicht zu stören. Wichtiger sei, dass die Tischtennisplatten im Park bis zur Sperrung alle nutzen konnten, wie Markus aus der Sodensternstraße zu berichten weiß. Die Sperrung des Parks würde das kommunale Leben aus der Straße streichen. Im Stadtteil wohnten 2018 über 1800 Studierende, die meist nur für wenige Jahre eine Bleibe suchen, oft als Single-Haushalt – ermutlich auch ein Grund dafür, dass sich die Bevölkerung des Stadtteils alle paar Jahre zur Hälfte austauscht. Eine Herausforderung für einen Stadtteil, der nicht zuletzt wegen seiner Universitätsnähe in der hervorragend in die Umstrukturierungspläne von Immobilieninvestoren passt.

Auf der anderen Seite des Blocks, in der Ysenburgstraße, wird derweil sogar Samstags gearbeitet. Das lange verfallende Gebäude mit der Nummer 36 wird neuerdings saniert. Ein Investor hat die Immobilie nach langem Erbschaftsstreit gekauft und baut den ehrwürdigen Altbau nach eigener Aussage nun zu einem privaten Studentenwohnheim aus. Obwohl der Quadratmeter nicht am Baugerüst ausgepreist ist, ist jetzt schon klar: Sozialverträglich werden die Mieten wohl kaum. Kleine Apartment-Wohnungen mit Kochnische zu hohem Quadratmeterschlüssel, mit schnellem Durchzug der Mieter, das freut vorrangig den Kontostand des Investors.

“Eine Herausforderung für einen Stadtteil, der nicht zuletzt wegen seiner Universitätsnähe in der hervorragend in die Umstrukturierungspläne von Immobilieninvestoren passt.”

Derweil ist der 800 Meter Lauf der Kinder an der Gartenstraße 27 vorbeigekommen. Ein kleiner metallener Pflasterstein vor dem Gebäude erinnert, in den Boden eingelassen, an die 1945 von den Nazis ermordete Kommunistin Paula Lohhagen. Wo vor bald einhundert Jahren Lohagen lebte, ist heute immer noch soziale Ungleichheit ein Thema der Auseinandersetzungen.

Das Wesertor hat generell ein Problem mit langfristigem Halten der Anwohner. Das alte Arbeiterviertel hat historisch viele kleine Wohnungen auf wenig Raum, was die relativen Mieten sehr weit oben hält, jedoch wegen der geringen Quadratmeteranzahl vor allem für Geringverdiener attraktiv ist. Das hält wenige Familien und Wohngemeinschaften, die von Natur aus viel Platz beanspruchen und fördert vereinzeltes und prekäres Wohnen. Zudem auch die Umstrukturierung des privatisierten Wohnraums in jüngerer Vergangenheit daran mitwirkt. Niedrigpreisige Appartments mit Fluktuation statt bezahlbares langjähriges Wohnen dominieren die Entwicklung.

Auf dem schattigen Wesertorplatz erfährt man weiter, dass das massive Verkehrsaufkommen und die Klimaanpassung des Stadtteils neben der sozialen Segregation weitere drängende Probleme sind. Es brauche eine nachhaltige Begrünung von Wohnquartieren und eine Lösung für den sich anbahnenden Verkehrkollaps – nicht nur in der Kasseler Innenstadt –, sonst würden urbanere Viertel wie das Wesertor für ihre Bewohner an Wohnqualität verlieren.

Doch nachhaltige und nicht-profitorientierte Schaffung von Wohnraum ist kaum in Sicht. In ganz Kassel entsteht eine Immobilienblase, es wird in privater Hand modernisiert, gekauft und verwertet, während sozialer Wohnungsbau allenfalls in den Randbezirken zu finden ist. Der Abriss eines Autohauses in der Fuldatalstraße lässt beispielsweise keinen sozialen Wohnraum, sondern einen REWE-Markt entstehen. Eine große Parkplatzanlage ist natürlich inklusive.

Der Stadtteil muss sich angesichts dieser Entwicklung Sorgen machen. Denn wenn den Entwicklungen von Segregation, Wohnraumumstrukturierung und Verkehrszunahme kein Einhalt geboten wird, wird der lebenswerte kleine Stadtteil zu einem Quartier, nach dem sich nur Investoren und Stadtplaner die Finger lecken, Bewohner jedoch wohl langfristig den Rücken kehren. Nur ein Stadtteil, der sich kennt, organisiert und einmischt kann hier gegensteuern. Und hierfür stehen die Karten auf dem Wesertorplatz im September sehr gut.