Der Kasseler, der zur Roten Armee überlief


Heute vor 75 ans, un m 8. plus 1945 endete mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht der Zweite Weltkrieg in Deutschland. plus que 60 Millionen Menschen hatten in dessen Verlauf ihr Leben verloren und die deutschen Faschisten einen ganzen Kontinent verwüstet. Nur unter großen Verlusten konnte 1943 das Blatt gewendet und die Wehrmacht schließlich besiegt werden. Der Kasseler Kommunist Willi Belz erlebte das lang ersehnte Ende Hitlerdeutschlands an der Ostfront, allerdings auf Seiten der Roten Armee.

Nach einer Haftstrafe, die er für seine Arbeit als Funktionär des verbotenen Kommunistischen Jugendverbandes verbüßen musste, wurde er 1941 zwangsweise in die Wehrmacht eingezogen. Für die Nazis zu kämpfen, kam für ihn allerdings nicht in Frage und sofort fasste er den Entschluss, bei der erstbesten Gelegenheit zur Roten Armee überzulaufen. Als er schließlich 1943 gegen die Sowjetunion ins Feld geschickt wurde, befindet sich die Wehrmacht schon auf dem Rückzug. In einem unbeobachteten Moment versteckt er sich im Schuppen einer russischen Familie, wartet mehr als 30 Stunden auf die anrückende Rote Armee und ergibt sich schließlich.

In Interviews und eigenen Veröffentlichungen erzählt Willi Belz seine Lebensgeschichte, von den Schwierigkeiten der politischen Arbeit während der Nazi-Diktatur in Kassel und seiner Zeit in der Sowjetunion. Dabei schafft er auch ein Denkmal für seine Freunde und Genoss*innen, die die Naziherrschaft nicht überlebten.  

In den folgenden Auszügen aus einem Gespräch von 1976 berichtet Willi von seiner illegalen politischen Arbeit in Kassel und davon wie es ihm gelang, zur Roten Armee überzulaufen.

Illegale politische Arbeit in Kassel

Ich bekam natürlich keine Arbeit mehr in meinem Beruf als technischer Zeichner und musste als Bauhilfsarbeiter arbeiten. Allmählich nahm ich dann wieder erste Kontakte auf mit Genossen, die in Freiheit waren und auch mit anderen Antifaschisten. Schließlich kam ich 1939 in den Coca-Cola-Betrieb. Es gab hier eine deutsche Coca-Cola-Gesellschaft, die mit amerikanischer Lizenz produzierte. Die Kasseler Niederlassung befand sich in der Quellhofstraße. Wir „Hochverräter“ hatten die Möglichkeit, in solchen Betrieben unter Umständen noch einen Arbeitsplatz zu finden. Diese Fabrik stellte ja keine Rüstungsgüter oder etwas anderes Geheimes her, was gefährdet werden konnte. Und siehe da: es trafen sich in der Coca-Cola-Fabrik mehrere vorbestrafte „Hochverräter“!

Unter anderen der August Thöne, der in der Bezirksleitung der KPD gewesen war (der „Professor“), dann der Willi Lein, und der Maschinenmeister von Coca-Cola war der Adolf Höhmann, der war seiner Herkunft nach Sozialdemokrat und Arbeitersportler.

Jedenfalls waren wir zunächst einmal eine Kerntruppe von sechs Leuten, die die Nasen zusammensteckten, und beschlossen, im Coca-Cola-Werk eine illegale Gruppe aufzuziehen.

Im Werk arbeiteten etwa 45 à 50 personnes, mit den Kraftfahrern 60. Unsere Tätigkeit bestand zunächst darin, politische Informationen auszutauschen, im engeren Kreis über die internationale Lage zu diskutieren, den Moskauer Sender abzuhören und andere Sender, den illegalen Freiheitssender der KPD zum Beispiel. Wir haben sehr intensiv unsere Meinungen ausgetauscht, auch mit einigen Leuten, die aus der SPD gekommen waren und die meinten, es müsste etwas gemacht werden. Wir haben uns dann vorgenommen, bestimmte konkrete Forderungen im Betrieb zu stellen: Verbesserung der sozialen Bedingungen, zum Beispiel des Kantinenessens, besseren Lohn, andere Vergünstigungen. Wir konnten dabei an bestimmte Unzufriedenheiten in der Belegschaft anknüpfen.

Das war aber nicht unsere einzige Arbeit. Wir waren in diesem Betrieb nur die Kerntruppe für die illegale Arbeit; unsere Tätigkeit ging aber über den Betrieb hinaus in die benachbarten WohngebieteFasanenhof, Hebbelstraße, überall dorthin, wo noch alte Kumpels aus der Arbeiterbewegung waren, zum Beispiel in den Henschelhäusern, haben wir Kontakte aufgenommen. Allerdings wurde zu dieser Zeit schriftliches Material nicht herausgegeben. Wir haben uns konzentriert auf die mündlichen Gespräche und auf den regelmäßigen Kontakt mit alten Genossen, einzeln oder in kleineren Gruppen in den verschiedensten Stadtteilen. Dabei ging es immer in erster Linie um die Erörterung der laufenden politischen Angelegenheiten, der internationalen Politik und der Nazipolitik. Es waren immer konkrete Anlässe, von denen die Diskussion ausging.

Unsere illegale Arbeit haben wir recht gut abgeschirmt. Denn es gab natürlich im Betrieb auch SA-Leute und überzeugte Nazis, „Radfahrer“, Spitzel, die sehr genau aufpassten, was im Betrieb vor sich ging, nicht zuletzt deshalb, um sich bei der Betriebsleitung und der NSDAP beliebt zu machen. Und da war einer dabei, der irgendetwas in die Nase gekriegt haben musste. Wir führten ja auch politische Diskussionen in den Frühstücks- und Mittagspausen, sehr verdeckt, meist in der Form, dass wir in zweideutiger Weise Verlautbarungen aus der Presse glossierten. Der wurde aber aufmerksam und hatte ein Auge auf uns. Schlich immer um uns herum im Betrieb und wollte uns in Gespräche verwickeln.

Um uns noch stärker abzuschirmen, vereinbarten wir folgendes: wir unterhielten uns ernsthaft über die neueste Lage, zum Beispiel beim Adolf Höhmann an der Werkbank; höchstens zu zweit oder zu dritt. Wir tauschten die neuesten Informationen aus und diskutierten unsere Auffassungen darüber, und wenn das abgeschlossen war, fingen wir plötzlich einen Streit an über innerbetriebliche Dinge und brüllten uns furchtbar an. Dann gingen wir im Streit auseinander. Und die anderen machten das genauso.

Als dann die Gestapo uns auf eine Anzeige aus dem Betrieb hin überprüfte, konnten wir uns gut herausreden. Wir hätten einen Maschinenmeister, nach dessen Stellung der und der schon lange trachteten. Der eine würde gern Füllmeister werden, der andere gern die Lagerabteilung übernehmen, und so gäbe es eine ganze Reihe von Leuten, die wie Hund und Katze wären. Es hätte bei uns mehr Streit als friedliche Tage gegeben. Ob sie sich vorstellen könnten, dass es in einem solchen Betrieb unter diesen Leuten möglich sei, sich zu kommunistischen Umtrieben zu verabreden. Der Gestapo hat das so eingeleuchtet, dass sie nicht einen von uns gegriffen hat.

Hätten sie nur einen herausgefischt und ein bisschen ausgequetscht, ein bisschen zusammengeschlagen, so dass der vielleicht angedeutet hätte, dass wir die Köpfe zusammengesteckt und politisch diskutiert hatten, dann hätten sie uns die Köpfe abgemacht.

August Thöne, der war noch im Krieg bei der Coca-Cola. Er ist beim Bombenangriff 1943 im Bunker umgekommen. Willi Lein ist wegen Desertion von der Wehrmacht erschossen worden. Wir anderen wurden dann ab 1939 in alle Winde zerstreut

Freiwillig zur Roten Armee

Ich springe raus mit einem Satz, die linke Hand hoch und die rechte ausgestreckt, dass sie sahen, ich hatte nichts in der Hand, und sage dann auf russisch: „Tag, Genossen! Komme freiwillig zur Roten Armee!“ Die waren wie vom Donner gerührt. Dann waren alle MPs auf mich gerichtet. Sie standen im Halbkreis um mich herum. „Wie ist die Stimmung“, dachte ich, „was ist vorher passiert? Was machen die mit so einem einzelnen ‚Faschisten‘ jetzt

Sie drängten mich an den Wegrand, und dann habe ich alle russischen Sprachkenntnisse zusammengenommen und erklärt, dass ich Kommunist sei und freiwillig zur Roten Armee komme.

Darauf hatte ich mich vorbereitet. Und der Sergant sagte: „Nix schießen, du zurück!“ Soweit war alles klar. Und dann wurde ich auf den Weg befohlen. Ich musste losmarschieren mit zwei Soldaten im Rücken und dem Serganten dabei.

Bald kamen wir schon in das erste Dorf. Auf dem Fuße der Roten Armee folgten bereits die Zivilisten; Enfants, alte Omas, Opas liefen herum, Hühner, Gänse und Enten flatterten durch das Dorf. Dann kamen Lastwagen mit Truppen, und die Soldaten riefen von oben herunter: “Ah, Fritz, Fritz!” et “Hitler kaputtund lachten. Ich kam ins Dorf, es war furchtbar heiß. Ich wünschte etwas zu trinken. Da kam so ein altes Mütterchen und brachte mir einen Topf Wasser. Und dann Kilometer um Kilometer marschiert!

Aus einem großen Getreidefeld ragte eine Funkantenne herauseine Sendestelle. Wir waren beim Divisionsstab. Da setzte ich mich erstmal auf einen Erdhügel Es kam ein Offizier aus dem Unterstand heraus, mit Stabsuniform, rote Biesen, war offenbar Adjutant. Er sprach deutsch: „So, Kommunist sind Sie? Und warum kommen Sie dann allein? Warum haben Sie nicht 40 Leute mitgebracht?“ Was sollte ich dazu sagen. „Ich habe mich bemüht, Leute zu gewinnen, aber ohne Erfolg.“

Ich kam in eine Ecke des Getreidefeldes, da saßen 10 à 12 deutsche Gefangene, teilweise verwundet, mit Verbänden. Keiner sprach einen Ton, lagen da wie abgestochene Kälber. “Was ist denn los? Warum sagt keiner ein Wort? Wo kommt ihr her?“ Bis dann einer sagte: „Was sollen wir noch reden, wir werden ja doch gleich abgeknallt!“ „Ihr Idioten!“ sagte ich und fing dann gleich an, auf sie einzureden, warum sie alles von der faschistischen Propaganda glaubten. Dann wurden wir weggebracht. Es ging zum Armeestab und zur politischen Abteilung.

Keine 12 Stunden später saß ich schon an der Schreibmaschine und habe die ersten Flugblätter verfasst!

Ich war dann einige Monate an der Front, dans le 11. Sowjetarmee, mit nächtlichen Einsätzen und Aufrufen über Grabenlautsprecher: Liebe Kameraden, seht ein, der Krieg ist verloren. Rettet euer Leben, begebt euch in Gefangenschaft, soundso ist die Frontlage – das war in etwa der Inhalt.

Später wurde die 11. Armee aus der Front herausgezogen, und ich kam in ein großes Kriegsgefangenenlager mit 7.000 Mann. Dort war ich Bevollmächtigter vom Nationalkomitee Freies Deutschland und habe über ein Jahr politisch gearbeitet, Kurse durchgeführt und mich mit unseren Landsern herumgebalgt.

1947 bin ich heimgekommen. Warum so spät? Weil sie immer sagten, ich müsste noch ein bisschen dafür sorgen, dass Hitlers ehemalige Soldaten ein paar vernünftige Gedanken bekämen! Aber schließlich habe ich gesagt: Ihr könnt mir mal den Buckel herunterrutschen, die warten daheim auf mich, die Genossen und die Familie!

Willi Belz, 1976

Anmerkung der Redaktion: Das Interview mit Willi Belz wurde 1984 dans Volksgemeinschaft und Volksfeinde publié. Das Buch ist gratis als PDF-Dokument verfügbar.