Die Knastrevolte in der ‘Elwe’


Am 24.07. jährt sich die Revolte von ca. 40 Abschiebehäftlingen in der Kasseler JVA ‚Elwe‘ zum 27. Mal. Die Revoltierenden protestierten damals gegen die ihnen drohende Abschiebung sowie die desaströsen Haftbedingungen. Der Aufstand reihte sich damals ein in eine Vielzahl von Versuchen von Asylsuchenden, gegen die rassistische Asyl- und Migrationspolitik Deutschlands Widerstand zu leisten. Eine Prozessbeobachtungsgruppe dokumentierte damals die Geschehnisse während und nach der Revolte.*

Demo in Kassel, 02.12.1995. Quelle: Elwe-Prozessreader

In den 90er Jahren wurden in Kassel die Menschen, die der deutsche Staat abschieben wollte, in der JVA ‚Elwe‘ in der Leipziger Straße 11 zusammen mit U-Häftlingen inhaftiert. Sie saßen dort oft mehrere Monate, manchmal sogar bis zu 1 ½ Jahren ein, bis ihre Abschiebung vollzogen wurde. Die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl 1993, die der rassistischen gesellschaftlichen Grundstimmung folgte, führte zu einer verschärften Abschiebepraxis, die auch in Kassel kompromisslos umgesetzt wurde. Über die Haftbedingungen berichtete damals die ‚Elwe‘-Prozessbeobachtungsgruppe in ihrer Broschüre*:

23 Stunden Einschluss auf der Zelle – z.T. zu sechst auf 20qm mit der Toilette in einer Ecke, dazu nur ein kleines Fenster, welches nur gekippt werden kann, keine Arbeit, keine Veranstaltungen, nur 2 Paketmarken im Jahr; rassistische Sprüche durch JVA- Bedienstete. Beschwerdebriefe werden bei der Übergabe zerrissen…“.

‚Elwe‘- Prozessbeobachtungsgruppe in ihrer Broschüre

Am 24.07.1994 setzten sich Abschiebehäftlingen schließlich zur Wehr. Nach der Freistunde überwältigten einige Abschiebehäftlinge den Aufseher, der an diesem Sonntagvormittag alleine auf der Station war. Sie nahmen ihm seinen Schlüsselbund ab und schlossen damit die übrigen Zellen auf. Doch das Haupttor konnte mit den Schlüsseln vom Schlüsselbund des Aufsehers nicht aufgeschlossen werden.

Forderung: Freiheit für die Abschiebehäftlinge

Daraufhin entschlossen sich einige der Revoltierenden, den Aufseher als Geisel zu nehmen, um Forderungen an Polizei und Justiz stellen zu können. Diese waren in der Zwischenzeit vor dem Gebäude eingetroffen. Die Forderungen der Revoltierenden gegenüber der Polizei waren: Die Abschiebebefehle sollten aufgehoben und den Revoltierenden ermöglicht werden, sich ins europäische Ausland abzusetzen.

Die Revoltierenden hielten die Geisel zunächst im Sanitätsraum fest, wechselten aber am Nachmittag auf das Dach der JVA, um die festgefahrenen Verhandlungen voran zu bringen. Kurz zuvor war im Arbeitstrakt der Elwe ein Feuer ausgebrochen. Darin verbrannten auch ein Großteil der dort gelagerten Akten der Gefangenen.

Die Revoltierenden mit Geisel auf dem Dach. Quelle: Elwe-Prozessreader

Unterdessen formierte sich vor dem Gefängnis eine Demonstration, die die Gefangenen in ihren Forderungen unterstütze. Für die Revoltierenden war der Charakter der Demonstration zunächst unklar, was unter ihnen Unsicherheiten erzeugte – es wurde jedoch bald deutlich, dass die Demonstrierenden ihre Forderungen teilten. Abends wurde die Demonstration dann jedoch von der Polizei niedergeschlagen und 11 Menschen in Gewahrsam genommen.

Zermürbende Taktik der Polizei

Die Verhandlungen zwischen Revoltierenden und Polizei zogen sich den ganzen Tag über hin und die Revoltierenden konnten dabei keine Erfolge erzielen. Die Polizei verfolgte dabei eine zermürbende Verhandlungstaktik. So wurde auf die Forderungen der Revoltierenden inhaltlich überhaupt erst sehr spät eingegangen, auf reichlich zeitliche Verzögerung gesetzt und den Revoltierenden gleichzeitig keine Pause in den Verhandlungen zugestanden.

Gegen 3 Uhr morgens forderten die Abschiebehäftlinge schließlich wegen Hunger und Übermüdung, eine Verhandlungspause, die Seitens der Polizei abgelehnt wurde. Gleichzeitig evakuierte die Polizei den ganzen Tag über Mitgefangene, die sich von der Revolte distanzierten, und reduzierte somit immer weiter die Anzahl der Personen im Knast. Die Revoltierenden wurden so immer weiter isoliert.

Diese Zermürbung der aufständischen Abschiebehäftlinge führte schließlich dazu, dass sie gegen frühen Morgen ihre Forderungen stark reduziert hatten: So forderten sie nicht mehr den freien Abzug ins europäische Ausland, sondern nur noch aus der JVA Kassel in ein anderes Gefängnis außerhalb Kassels verlegt zu werden. Sie bestanden aber darauf, mit der Presse sowie einer solidarischen Anwältin zu sprechen, um öffentlich auf ihre Haftbedingungen und Haftdauer aufmerksam zu machen. Außerdem sollte ihnen eine humane Behandlung durch Justiz und Polizei nach Ende des Aufstands garantiert werden.

Der Aufstand wird niedergeschlagen

Gegen 8 Uhr Morgens schienen die Verhandlungen zunächst abgeschlossen, denn den Revoltierenden wurde ein Bus vorgefahren, der sie in die JVA Wiesbaden bringen sollte. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich noch 26 Aufständische in der Elwe, die daraufhin in den Bus stiegen. Die GSG-9 Einheit stürmte jedoch kurz darauf den Bus und beendete damit die Revolte nach 22 Stunden.

Abtransport der Gefangenen der Revolte. Quelle: Elwe-Prozessreader

Während in der Kasseler Lokalpresse von einem „unblutigen Ende“ der Revolte geschrieben wurde, sah die Realität der aufständischen Abschiebehäftlinge nach der Niederschlagung des Aufstands jedoch anders aus. Nachdem sie in die JVA Wehlheiden gebracht wurden, erwarteten sie die dortigen Schließer mit Knüppeln. So berichtete ein Teil der Revoltierenden, weitere Strafgefangene sowie die Gefängnispsychologin der JVA Wehlheiden, wie die ankommenden Abschiebehäftlinge durch eine Gasse von 10 bis 20 Schließern laufen mussten und dabei mit Knüppeln und Fäusten geschlagen wurden. Weitere Abschiebehäftlinge wurden in den Zellen mit Schlagstöcken misshandelt und es kam in den Wochen nach dem Aufstand zu weiteren Übergriffen von Schließern auf Abschiebehäftlinge.

Mit den systematischen Misshandlungen unmittelbar nach der Revolte beantwortete ein rassistisches Justizsystem einen Angriff auf sich selbst.“

‚Elwe‘- Prozessbeobachtungsgruppe in ihrer Broschüre

Im Zweifel gegen die Angeklagten“

Im November und Dezember 1994 begannen vor verschiedenen Kasseler Jugendschöffengerichten die ersten Prozesse gegen einzelne Revoltierende. Schon die Ermittlungen waren von Widersprüchlichkeiten durchzogen. So wurden manche der Revoltierenden gleichzeitig als Zeugen und Beschuldigte vernommen und dementsprechend widersprüchlich belehrt. Des weiteren kam mindestens eine Aussage, in der ein Beschuldigter auch andere Mithäftlinge belastete, unter dem Eindruck der Schläge durch die Schließer in der JVA Wehlheiden zustande. Er widerrief diese vor Gericht wieder.

Zur Auswahl der Angeklagten schreibt die Prozessbeobachtungsgruppe:

Zu Beginn der Revolte waren über 40 Abschiebehäftlinge unterschiedlichster Nationalitäten in der ‚Elwe‘ – am Ende waren es noch 26, nicht nur Algerier. Es ist aber offensichtlich, dass diejenigen Algerier, die bis zum Schluss dabei waren, als der ‚harte Kern‘ der Revolte angesehen wurden und die Justiz nach der Formel: Algerier + ‚bis zum Ende dabei‘ = Geiselnehmer „rechnete““

‚Elwe‘- Prozessbeobachtungsgruppe in ihrer Broschüre

Am Ende wurde dann zwölf Angeklagten der Prozess gemacht, elf von ihnen verurteilt. Zwei weitere Angeklagte wurden vor Beginn ihrer Prozesse bereits abgeschoben. Einer von ihnen war in der JVA Wehlheiden von den Schließern verprügelt worden und hatte deswegen Anzeige erstattet. Die Prozesse waren – wie schon die vorherigen Ermittlungen – geprägt von skandalösen Vorgängen. So waren unter anderem einige Zeugen, welche einzelne Angeklagten hätten entlasten können, vor Prozessbeginn bereits abgeschoben worden und der Richter machte keine Anstalten, zu ermöglichen, dass diese vor Gericht aussagen konnten.

Insbesondere die Konstruktion der Anklagen war bemerkenswert. So konnte die Revolte der Abschiebehäftlinge juristisch nicht als „Gefangenenmeuterei“ gewertet werden, weil die Revoltierenden keine Gefangenen im Sinne des Strafvollzugs waren. Deshalb wurde vom Gericht versucht, den einzelnen Angeklagten individuelle Straftaten wie z.B. Diebstahl, Sachbeschädigung, Brandstiftung oder Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte nachzuweisen.

Berichterstattung zu den Prozessen. Quelle: ‘Elwe’-Prozessreader

Die Grundlage dieser Zuordnung bildeten dabei die offensichtlich widersprüchlichen Aussagen des Schließers, der während der Revolte als Geisel festgehalten wurde. Weil die Akten, die die Verteidiger zur Verfügung hatten, äußerst lückenhaft waren und vor allem entlastende Aussagen von bereits abgeschobenen Zeugen nicht in die Akten aufgenommen wurden, hatte die Verteidigung keinen Überblick über den gesamten Komplex.

Des weiteren wurden Angeklagte für einzelne Straftaten verurteilt, obwohl ihnen die Beteiligung an diesen nicht nachgewiesen werden konnte. Ein Häftling was Beispiel,zum Zeitpunkt der vorgeworfenen Straftaten nachweislich nicht mehr vor Ort war, weil er sich bereits von der Revolte distanziert und im Zuge der Evakuierung die JVA verlassen hatte. Weil er aber die Mithäftlinge zur Revolte angestiftet haben soll, wurde er für den gesamten Verlauf des Aufstands zur Verantwortung gezogen und zu 3 ½ Jahren Haftstrafe verurteilt.

Im Oktober 1995 wurde der letzte dieser sogenannten „Elwe- Prozesse“ abgeschlossen. Ein wiederkehrendes Muster, schreibt die Prozessbeobachtungsgruppe, sei damals gewesen, dass in den Prozessen aufkommende Widersprüche zu Lasten der Angeklagten ausgelegt wurden. Der rechtsstaatliche Grundsatz, “im Zweifel für den Angeklagten” galt also in diesem Fall nicht.

Und weiter?

Die Revoltierenden hatten es trotz gescheitertem Aufstand geschafft, dass in der Öffentlichkeit die unerträglichen Haftbedingungen thematisiert wurden. Bald darauf wurde in Hessen der erste Abschiebeknast in Offenbach eröffnet, sodass Abschiebehäftlinge nicht mehr im Strafvollzug inhaftiert wurden, sondern in eigens für die Abschiebehaft konzipierten Gefängnissen. Die rot-grüne Regierung konnte damit zukünftig immer auf die vermeintlich verbesserten Haftbedingungen in diesen Gefängnissen verweisen. Die Trennung von Strafvollzug und Abschiebehaft ist auch heute noch rechtlich festgeschriebener Standard. Die Prozessbeobachtungsgruppe fasste die politische Dimension der Geschehnisse damals wie folgt zusammen, was sicher heute noch seine Gültigkeit hat:

In Deutschland gedachte Gesetze verlangen, an der eigenen Abschiebung in Verfolgung, Tod und Elend mitzuarbeiten. Das rot-grüne Konzept stellt Flüchtlinge vor die Wahl: entweder du tust selbst etwas dafür, dass du schnell in die Hände deiner Verfolger fällst oder – wenn du Widerstand leistest – geht es dir wie den Gefangenen in Kassel, wie den Gefangenen in einem beliebigen anderen Horrorknast der Republik.“

‘Elwe’ Prozessbeobachtungsgruppe in ihrer Broschüre

Dass die Aufständigen nicht nur gegen die Haftbedingungen revoltierten, sondern mit ihrer Forderung, dass sie frei ins Ausland abziehen dürfen, gegen das System der Abschiebungen an sich Widerstand leisteten, darf daher nicht in Vergessenheit geraten.

* Die knapp 40-seitige Broschüre – der ‚Elwe‘ Prozessreader vom Mai/Juni 1996 – kann im Archiv der Sozialen Bewegungen in Hamburg eingesehen werden.